dis/possession/dis/location
Klasse ter Heijne

(…) wir bewegen uns nicht einfach selbst, sondern werden durch andere außerhalb unserer selbst bewegt, doch zugleich auch durch das, was an “Außerhalb” in uns liegt.*

Während des Rundgangs der Kunsthochschule Kassel 2016 bewegen sich die Studierenden der Klasse für Performance, Installation und Neue Medien in einer nicht vorher festgelegten Choreografie innerhalb der gesamten Kunsthochschule sowie deren erweitertem Umfeld und performen zudem im virtuellen Raum.

Das Konzept sieht zwei feste Elemente vor.

1. Einkaufswagen
Einkaufswagen werden als bewegliche und gemeinschaftliche genutzte Elemente der Präsentation und Produktion von künstlerischen Arbeiten und Auseinandersetzungen genutzt. In einem Ritual der morgendlichen Besprechung verhandeln alle Beteiligten wie sie sich an den jeweiligen Tagen mit ihren rollbaren Modulen bewegen möchten. Zwischen der Ausstellung individueller Arbeiten in den Einkaufswagen bis hin zu kollektiven Gruppenperformance sind viele Möglichkeiten offen. Auf diese Weise werden Erfahrungen unterschiedlicher Individualität wie Kollektivität gesammelt und ausgewertet. Die Einkaufswagen stehen einerseits symbolhaft für den kapitalistischen Besitzindividualismus, also das, was jede Person “besitzt” um sich abzugrenzen und zu definieren und andererseits für Flexibilität als prekäre Gemeinsamkeit künstlerischen Schaffens. Einkaufswagen sind in der Regel das Eigentum großer Firmen und bedeuten die Verwobenheit kapitalistischer Verwertungsmechanismen in jedes einzelne Leben. Sie stehen aber auch für die Abhängigkeit der menschlichen Körper von deren Unterhalt, das heisst deren Pflege, Ernährung und Einbettung in soziale Beziehungen. Während der Rundgangs-Performance besteht als kleinste Einheit ein Einkaufswagen mit einer Person. Diese Kleinsteinheiten können sich bündeln und zu einem Schwarm werden. Es können auch Rezipient*innen Teil einer Einheit oder eines Kollektivs werden oder eine Person kann mehrere Einkaufwagen bewegen. Was bedeutet dieses Handeln für eine weitergedachte “Gemeinsamkeit”?

2. Virtuelle Ausstellung
Mithilfe von QR-Codes können die Rundgangs-Besucher*innen zudem eine digitale Ausstellung der Klasse ter Heijne erkunden. Diese QR-Codes sind an realen Orten innerhalb der Kunsthochschule angebracht und verweisen jeweils auf eine künstlerische Arbeit. Bedingung für die Betrachtung der digitalen Ausstellung ist der Zugriff auf WLAN und ein Smartphone. Die Schwellen zur Kunstbetrachtung werden so verschoben. Sind sonst reale Räume wie z.B. Museen oder andere Ausstellungsräume und deren Eintritt für manche Menschen erschwert, da entsprechende Zugänge z.B. in Form von Mobilität oder Bildung fehlen, wird in diesem Fall der Besitz eines digitalen Gerätes ausschlaggebend für die Teilnahme an einem kulturellen Erleben.
Damit erforscht die Klasse ter Heijne eine gesellschaftliche Realität, deren Erzählung noch häufig mit einem Gedanken der Barrierefreiheit und Demokratisierung einhergeht. Kann der digitale Raum diese Versprechen halten?

*Referenz
Grundlage der gemeinsamen performativen Forschung ist u.a. die Auseinandersetzung mit dem Begriff “dispossession” in dem Buch „Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen“ von Judith Butler und Athena Athanasiou (diaphanes, Zürich-Berlin 2014, vgl. S.16). Darin diskutieren die beiden Theoretiker*innen den Begriff der Enteignung (dispossession) vor dem Hintergrund ihrer beiden theoretischen Ausrichtungen. Enteignung betrachten die beiden auf zwei Ebenen.

Zum einen als externer Prozess, nämlich der, der gemeinhin unter Enteignung verstanden wird, die repressive Entziehung von Besitzrechten z.B. durch einen Staat. Zum anderen betrachten Butler und Athanasiou den Begriff als Ermächtigungsstrategie für Einzelpersonen: Sich frei machen von einem Besitz, den man nicht wünscht zu haben. Das bedeutete im übertragenen Sinn auch, sich bewusst in Bezug auf gesellschaftliche Normen zu positionieren, anstelle sie einfach zu “besitzen”. So besteht die Möglichkeit sich von Vorstellungen zu befreien, die Personen einschränken. Es gilt also herauszufinden, wie dieser Prozess des sich Enteignens unabhängig von materiellem Besitz aber in Auseinandersetzung mit der Materialität des Körpers herbeigeführt werden soll. Butler und Athanasiou suchen nach der Möglichkeit des Widerstands und sehen in der Praxis des sich Enteignens eine Option.
In Bezug dazu ist ein immer wiederkehrender Auseinandersetzungspunkt die Form von Kollektivität, die Potential zur Abwehr einschränkender Vorgaben hat. Die Art der Enteignung, die dafür stattfinden muss, ist das konsequente Verweigern der Annahme, dass materieller Besitz die Macht hat, Menschen zu separieren und das Infragestellen herrschender Vorstellungen des Individuums. Es geht also um die Anerkennung dessen, dass Menschen keine heiligen Entitäten sind, sondern maßgeblich durch ihr (soziales) Umfeld erst entstehen. Diese Vorstellung eines Subjekts steht konträr zu vorherrschenden Machtverhältnissen und erfordert kollektive Organisations-, Identitäts- und Lebensformen, die im praktischen Erproben entstehen.

Aus diesem Grund hat sich die Klasse ter Heijne entschieden, ihre eigene Praxis zu verlagern, sich selbst ihrer Räume zu enteignen und “öffentliche” Orte aufzusuchen – oder diese (neu) zu besetzen. Der Ort der Selbstpositionierung, die “location” wird als “dis/location” bezeichnet, was Verrenkung bedeutet, aber eben auch Nichtort. Nach Hannah Ahrend findet überall dort ein “Ort” statt, wo Menschen einander erscheinen, also füreinander sichtbar werden. Erst mit dem gegenseitigen Erreichen und Adressieren, kann jeder Ort öffentlich und damit politisch werden. Somit wird die Nichtlokalisierung automatisch zu Relokalisiserung und zur Generierung neuer politischer Orte.

Zukunft „performing interdependency“
Dieser Prozess kann niemals ein abgeschlossener sein und befindet sich im ständigen werden. Aus diesem Grund erhebt die Klasse ter Heijne keinen Anspruch darauf, fertige Arbeiten zu zeigen und begreift ihre eigene Performativität als Beitrag zur Erkundung neuer kollektiver Politiken. In naher Zukunft wird das tastende Voranschreiten an zwei weiteren Orten fortgeführt, während der Museumsnacht im Fridericianum und im Oktober in Athen in Kollaboration mit Studierenden der Athens School of Fine Arts (Prof. Zafos Xagoraris) und der Zürcher Hochschule der Künste (Prof. Dr. Elke Bippus).

Text Amelie Jakubek